Orgeln
in Niedersachsen

VERFASSERIN:
KIRA SOPHIE KAWOHL

Wer in Braunschweig unterwegs ist und ein 50-Cent-Stück zur Hand hat, sollte die St. Katharinenkirche aufsuchen und das Kleingeld in eine dreiminütige Live-Darbietung von Bachs Toccata d-Moll investieren: Die 54 Stimmen der Katharinenorgel aus dem Jahr 1980 können neuestens ohne die Anwesenheit der Organist*innen erklingen. Nach Einwurf der Münze und Auswahl des Titels spielt der im Jahr 2018 entwickelte Audiomat wie von Geisterhand die digital gespeicherten Registrierungen und Tastenschläge über die Orgelpfeifen ab. Mit dieser europaweit einzigartigen Orgel-Jukebox reiht sich ein weiterer schöpferischer Einfall in die seit Jahrhunderten von Innovation und handwerklichen Höchstleistungen geprägte Orgelkultur Norddeutschlands ein.

Das Land Niedersachsen bringt mit über 2000 historischen Orgeln eine annähernd vollständige Überlieferung der Orgelbaukunst aus den vergangenen 500 Jahren hervor. Die große Zeit des norddeutschen Orgelbaus begann im frühen 16. Jahrhundert. Durch die Reformation hatte sich in den benachbarten Niederlanden der Calvinismus ausgebreitet, was die Abwanderung von Organist*innen und Orgelbauer*innen nach Norddeutschland und die hiesige Ausbreitung der niederländischen Renaissance zur Folge hatte. Jene Epoche wird beispielsweise durch die von Hendrik Niehoff errichtete Orgel des brabantischen Typs in der Kirche St. Johannis in Lüneburg (1551–1553) überliefert. In der Reformationszeit wurden gleichzeitig die wohlhabenden Handels- und Großstädte mit ihren neuen lutherischen Kirchenordnungen, durch die das Amt des Organisten festgelegt war, Träger der musikalischen Entwicklung der Norddeutschen Orgelschule. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert traten mit Hans Scherer d. Ä. (1535–1611) und Gottfried Fritzsche (1578–1638) bedeutende Orgelbauer der Renaissance- und Frühbarockzeit in Aktion. Ihnen und ihrer Nachfolge gelang mit der Weiterentwicklung der brabantischen Orgel die Etablierung eines neuen Instrumententyps, in dem das Pedal ein eigenes Werk darstellte. Der sogenannte „Hamburger Prospekt“ (Brust- und Hauptwerk hinten, Rückpositiv vorne, zwei flankierende Pedaltürme) war für die Umsetzung der Norddeutschen Choralfanatasie konzipiert worden und breitete sich fortan auch im Niedersächsischen aus. Ein früher Scherer-Prospekt von 1585 hat sich in der St. Pankratius-Kirche in Burgdorf erhalten. Eine bedeutende Fritzsche-Orgel aus der Zeit des beginnenden Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) ist in der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel (1620–1624) zu sehen.

Im Verlauf ihrer Entwicklungen hatte die kirchliche Orgelmusik in den heute niedersächsischen Gemeinden eine entscheidende Wende vollzogen: Die gebräuchliche Alterimpraxis (das Alternieren von Orgelspiel und Gemeindegesang) wurde im Verlauf des 17. Jahrhunderts durch den einstimmigen, von der Orgel begleiteten Gemeindegesang abgelöst. Hierfür war eine neue Disposition der Instrumente notwendig, von denen nach Ende des Dreißigjährigen Krieges ohnehin eine Vielzahl zerstört worden waren. In der Stadtkirche St. Marien in Celle zeigt sich ein Beispiel für den im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts entwickelten Typus einer Stadtorgel der Nachkriegszeit, die unter Mitarbeit von Berendt Huß zwischen 1651 und 1653 entstand. Selbiger wurde einige Jahre danach Lehrmeister des berühmten Orgelbauers Arp Schnitger (1648–1719), der mit einem Werkstattbetrieb in Stade seine Karriere begann. Schnitger gelang es, die Barockorgel für den Einsatz zur Begleitung des Gemeindegesangs zu optimieren und bisher nie erreichte klangliche und ästhetische Leistungen hervorzubringen. Dies lässt sich heute beispielsweise anhand der Schnitger-Orgel der Kirche St. Peter und Paul in Cappel (1680) erleben. Zu den bedeutendsten Nachfolger*innen des norddeutschen Meisters in Niedersachsen gehören unter anderem sein ehemaliger Geselle Matthias Dropa (1646–1732, u. a. St. Michaelis in Lüneburg, 1708), der in Celle angesiedelte Erasmus Bielfeldt (1682–1753, u. a. St. Wilhadi in Stade, 1731) sowie die aus dem Hannoverschen stammende Orgelbauerfamilie Gloger (u. a. St. Sixti in Northeim, 1721). Diese und weitere Vertreter*innen der Schnitgerschule wirkten besonders im unmittelbaren Einzugsgebiet Hamburgs zwischen Elbe und Weser sowie im Oldenburger Land bis in das 19. Jahrhundert nach. Einzig Ostfriesland vollzog als ebenfalls stark durch Schnitger geprägte Region nach dem Tod des Orgelbaumeisters im Jahr 1719 einen radikalen Bruch: Hier setzten sich fortan eigenwillige, an den ostfriesischen Schnitger-Zeitgenossen Joachim Kayser (gest. 1720) angelehnte Orgelbaustile durch, vertreten insbesondere durch Johann Friedrich Constabel (1690–1762). Die einzige erhalte Kayser-Orgel findet sich in der Kirche St. Sixtus und Sinicius in Hohenkirchen (1694); eine seltene fast vollständig erhaltene Constabel-Orgel aus dem Jahr 1738 kann heute im ostfriesischen Jennelt besucht werden.

Erst nachdem die sozialen Umwälzungen des Zeitalters der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert zu einem rapiden Verfall der kirchenmusikalischen Strukturen in Niedersachsen führten, ebbte auch das Interesse an der Orgelmusik ab. Da aber vielerorts Organist*innen das Management des bürgerlichen Konzertwesens übernahmen, konnte ein absoluter Niedergang der Orgelkultur umwunden und stattdessen ein Umbruch eingeleitet werden. Im Zuge eines langwierigen Prozesses löste sich das niedersächsische Orgelbauhandwerk allmählich von den barocken Prinzipien. Als Ergebnis einer langsamen Transformation hatte sich im späten 19. Jahrhundert ein neuer Orgeltypus entwickelt: Die am Orchesterklang orientierte und meist pneumatisch betriebene Orgel der romantischen Stilepoche. Insbesondere das zwischen 1814 und 1866 stark unabhängige Königreich Hannover brachte mit dem Orgelbauer Philipp Furtwängler (1800–1867) eine stilbildende Schule der Romantik hervor. Während die meisten Orgeln dieser Periode in Südniedersachsen später entfernt oder verändert wurden, hat sich ein einzigartiges Werk Furtwänglerschen Schaffens mit der im Jahr 1858 entstandenen Orgel der St. Petri-Kirche in Buxtehude erhalten. Die niedersächsische Orgel-Romantik wirkte noch bis in das frühe 20. Jahrhundert nach.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten, wie bereits zur Barockzeit, die großen Kriegszerstörungen schlussendlich zu neuem Erblühen der Orgelkultur: In den Nachkriegsjahren der 1950er kam es im Zuge einer Rückbesinnung auf die mechanisch betriebene Barockorgel zu einer Erneuerungsbewegung des niedersächsischen Orgelbaus. Wichtige Zentren dieser Orgelbewegung waren Göttingen mit dem Orgelbauer Paul Ott (1903–1991) und Altwarmbüchen, wo seit 1948 die Gebrüder Hillebrand wirkten. Weltweit schlossen sich Orgelbauer*innen – immerhin im Zeitalter der allgegenwärtig gewordenen Elektronik – dieser anachronistischen Entwicklung an. Die Bewegung schlug sich auch in zahlreichen Orgelneubauten Niedersachsens nieder: Im inneren Aufbau beherbergten die Instrumente technische Grundprinzipien vergangener Zeiten, am Außenbau verkörperten sie den Zeitgeist der Moderne. In Göttingen zeigen dies beispielsweise die mechanischen Orgeln von Paul Ott in den Kirchen St. Johannis (1954) und St. Jacobi (1966). In Hannover liefert die Orgel der Auferstehungskirche, die 1969 von den Gebrüdern Hillebrand ebenfalls mit mechanischen Trakturen gebaut wurde, über diese Entwicklung ein Zeugnis ab. Parallel zur Orgelbewegung etablierte sich eine geregelte, wissenschaftlich fundierte Orgeldenkmalpflege in Niedersachsen. Mit dem Restaurierungsschwerpunkt neu gegründeter Unternehmen, wie der seit 1954 bestehenden Werkstatt von Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema im ostfriesischen Leer-Loda, konnten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche historische Orgeln wiederbelebt oder erhalten werden. Die Erfolgsstory des niedersächsischen Orgelbaus zeigte sich in den letzten Jahrzehnten auch am zunehmenden Multiplikationseffekt historischer Orgeln, die weltweit nachgebaut wurden. So steht beispielsweise eine Replik der Osterholz-Scharmbecker Erasmus-Bielfeldt-Orgel von 1731 seit 1975 in Tokyo. Vielleicht wird auf diese Weise auch der geistreiche Braunschweiger Orgel-Audiomat bald andere Regionen inspirieren.

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