Arp Schnitger
in Niedersachsen

VERFASSERIN:
KIRA SOPHIE KAWOHL
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Lüdingworth, St. Jacobi

Foto:

Christoph Schönbeck

Man stelle sich vor, wie die Mitglieder einer kleinen Kirchengemeinde in den Marschlanden zwischen Elbe und Weser, gewöhnt an die reduzierte Klangwelt ihrer weitläufigen Umgebung, an die raumgreifende Stille von Seeluft und Nebel, eines hohen Festtags des ausgehenden 17. Jahrhunderts die Kirche St. Jacobi d. Ä. in Lüdingworth betraten: Aus minuziös abgestuften 56 Pfeifenreihen über 35 Registern atmete ihnen das órganon von der Westempore her ein Klangerlebnis überwältigender akustischer Vielfalt entgegen, einen barocken Megasound bei niedrigster Deckenhöhe, perfektioniert für die Darstellung eines Orgelrepertoires, das sonst nur in den hohen hanseatischen Stadtkirchen zu hören war. Die in den Jahren 1682/83 zu einem dreimanualigen Instrument mit Rückpositiv und Pedaltürmen erweiterte Orgel im Bauerndom von Lüdingworth zählt aufgrund der behutsamen Integration von Stimmen aus dem Vorgängerbau des 16. Jahrhunderts sowie ihres stark räumlichen Klangeffekts bei engsten Platzverhältnissen zu den bedeutenden historischen Akustikplanungen Europas.

Ihr Sound-Designer war kein geringerer als Arp Schnitger (1648–1719), Großmeister des barocken Orgelbaus in Norddeutschland, dessen Werkstätten insgesamt 170 Um- und Neubauten entwickelten. Die meisten davon entstanden für die Gemeinden der heutigen nordniedersächsischen Landkreise Stade, Cuxhaven, Wesermarsch und Oldenburg. Schnitger, der sogenannte „Hamburger Meister“ war aus heutiger Sicht ein Niedersachse. Im letzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges als jüngster Sohn eines Tischlers („Snitkers“) in Schmalenfleth in der oldenburgischen Wesermarsch geboren, verließ er mit 18 Jahren zunächst die Heimat, um beim Orgelbauer Berendt Huß in Glückstadt eine fünfjährige Berufsausbildung zu absolvieren. Dem „Orgelbawers […] Gesellen, Arpen, zur VerEhrunge“ (Zitat nach Beckmann 2009, S. 98) hatte man bereits sieben Jahre darauf für die auffällig qualitätsvolle Mitarbeit an der Orgel von St. Cosmae & Damiani in Stade (1668/73) Sonderzuwendungen gezahlt. Nach dem Tod seines Meisters im Jahr 1676 bekam der 29-jährige Geselle Arp die Gelegenheit, selbstständig die dreimanualige Orgel von St. Wilhadi (44 Register in Oberwerk, Rückpositiv, Brustpositiv und Pedal) zu vollenden. Dieser Auftrag führte Schnitger erneut in die Elbe-Weser-Region; 1677 ließ er sich als selbstständiger Orgelbaumeister in Stade nieder. Hier entstanden die niedersächsischen Orgeln seines Frühwerks: Zunächst Renovierungs- und Erweiterungsaufträge, etwa für St. Wulphardi in Freiburg an der Niederelbe (1677) oder für die Gemeinden Borstel (1677) und Jork (1678/79) im Alten Land. Für eine Scherer-Orgel in der Stader St. Nikolai-Kirche (heute in Himmelpforten) lieferte Schnitger im Jahr 1677 einige neue Stimmen, in Assel bei Stade und Osten an der Niederelbe führte er um 1680 Reparaturen aus, im selben Jahr errichtete er in Scharmbeck bei Bremen eine kleine, heute nicht mehr erhaltene Orgel (1680). Als erste eigenständige Neubauten der Stader Zeit gelten jene Orgeln der Johanniskirchen in Oederquart im Land Kehdingen (1678/82) mit 28 Registern in Hauptwerk, Brustwerk, Rückpositiv und Pedal sowie in Bülkau im Land Hadeln (1679) mit ursprünglich sechs oder zehn Registern (nur noch der Orgelprospekt ist erhalten). In Cappel an der Nordseeküste steht heute eine der am besten erhaltenen Schnitger-Orgeln dieser frühen Zeit: Das berühmte Instrument mit 30 Registern in Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal wurde im Jahr 1680 für die Hamburger Klosterkirche St. Johannis gebaut.

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"Soli deo Gloria - Zur Ehre Gottes"

Arp Schnitger

Zu dieser Zeit hatte sich der Schnitgersche Werkstattbetrieb bereits soweit etabliert, dass sogar eine Anfrage zum Bau der Domorgel im weitentfernten schwedischen Uppsala einging, die allerdings nicht angenommen wurde. Mit Gutachten in Mecklenburg und Pommern führte Schnitger im Jahr 1681 erste überregionale Aufträge aus. Durch das Aufblühen seines Betriebs in Stade wurde die Stadt an der Unterelbe zum Ausgangspunkt einer schulebildenden Orgelbaubewegung. Die besondere Kunst dieser Orgeln bestand in der perfektionierten Ökonomie der Dispositionen eines mehrchörigen Werkprinzips und der Optimierung für das im evangelischen Gottesdienst zunehmend an Bedeutung gewinnende Zusammenspiel mit der Gemeinde. Der Bedarf an einer solchen Gemeindegesangorgel für die Hamburger Hauptkirche St. Nikolai führte Schnitger ab 1682 zur Verlegung von Wohnsitz und Werkstatt in die Hansestadt. Zu dieser heute nicht erhaltenen größten Schnitger-Orgel (67 Register) pilgerten einst die bedeutendsten Musiker, darunter Johann Sebastian Bach. Fernab der Hamburger Feuersbrunst, der die Großstadtorgel 1842 zum Opfer fiel, blieb die zweitgrößte erhaltene Orgel Schnitgers aus den Jahren 1686/88 in der Kirche St. Ludgeri im ostfriesischen Norden unversehrt. In alter norddeutscher Manier war das Instrument (46 Register in fünf Werken) mit nur einem Pedalturm bestückt, den Schnitger zugunsten einer besseren Akustik in kunstvoller Weise um den südöstlichen Vierungspfeiler herumbauen ließ. Maßnahmen wie diese, aber auch die gängige Einbindung von Stimmen aus Vorgängerinstrumenten weisen Schnitger als genialen Konservator aus, der ein tiefgreifendes Verständnis für die Orgelbautradition der Renaissance- und Frühbarockzeit gehabt haben muss.

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Norden, St. Ludgeri

Foto:

Christoph Schönbeck

Zum Spektrum des Schaffens jener Zeit um 1690 gehören neben den ganz großen auch die ganz kleinen Orgeln, wie sie mit der ehemaligen Hamburger Waisenhausorgel im niedersächsischen Grasberg bei Bremen (1699) oder in Dedesdorf (1697) zu finden sind. „Der Orgelmacher ist ein reputierlicher Mann“ (Zitat nach Vogel/Fock 1997, S. 184), schrieb der Dedesdorfer Pastor nach Vollendung seiner neuen Orgel nieder. In der Tat war Schnitger, in zahlreichen Quellen als uneigennützig und gutherzig beschrieben, stets versucht, die größten qualitativen Ergebnisse für die kleinsten Gemeinden zu erzielen. Einer seiner ästhetisch wertvollsten Arbeiten entstand 1702 für die Gemeinde von Estebrügge im Alten Land. In detailreicher Ausführung und harmonischer Proportionierung schuf Schnitger hier nach eigener Aussage „eine herrliche Orgel, wie man sie in vielen Städten nicht findet“ (Zitat nach Fock 1974, S. 85).

Um 1700 florierte das Unternehmen mit Werkstätten in Hamburg, Stade, Bremen, Groningen, Lübeck, Magdeburg und Berlin. Der Orgelbau-Manager koordinierte rund zehn ständige Mitarbeiter*innen und bildete insgesamt etwa 50 Gesell*innen aus. Seine renommierten Orgeln wurden durch den Seehandel bis nach Russland, England, Spanien, Portugal und sogar Brasilien ausgeliefert. Obschon das Unternehmen aber so international aufgestellt war, stattete Schnitger vor allem den ärmeren Gemeinden der heimatlichen Lande, für die er seit 1699 ein Orgelbauprivilegium besaß, häufige Besuche ab. Hier inspizierte und restaurierte er die in die Jahre gekommenen Instrumente aus seinem Hause, meist aus Eigeninitiative und kostenfrei „zur Ehre Gottes“ (Zitat nach Fock 1974, S. 269). In seiner Taufkirche in Golzwarden stellte er „ein fast gantz Neu werck auss der Alten Orgel (Aus dem Patrimonialbuch der Kirche Golzwarden von 1700. Zitat nach Fock 1974, S. 131) ohne jedwede Entlohnung fertig. Vor nunmehr 300 Jahren starb der fromme Meister an den Folgen einer aufreibenden Geschäftsreise und wurde am 28. Juli 1719 in Neuenfelde im Alten Land bestattet. In den zahlreichen Orgeln, die unmittelbar aus seiner Hand oder aus den Händen der ihm nachfolgenden Schnitgerschule stammten, lebt er mit jedem Ton weiter.

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Estebrügge, St. Martin

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Nomine/Dale Carr

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